Was Menschen hilft, schadet Lebewesen im Gewässer: Spurenstoffe aus Medikamenten führen laut Wissenschaftlern vor allem bei Fischen dazu, dass sie ihr artgerechtes Verhalten ändern. Männlichen Fische verweiblichen durch Reste der „Anti-Baby-Pille“, Rückstände aus Beruhigungsmitteln führen dazu, dass Fische sich absondern und leichtere Beute für Fressfeinde werden. Der Lippeverband sorgt mit dem Ausbau der vierten Reinigungsstufe an mehreren Kläranlagen künftig dafür, dass weniger Spurenstoffe in die Gewässer gelangen. Am Weltwassertag (22.3.) informiert der Wasserwirtschaftsverband außerdem darüber, dass jeder etwas für den Gewässerschutz tun kann.
Bei Rücken- oder Gelenkschmerzen schnell eine Salbe auftragen oder bei Kopfschmerzen fix eine Tablette einnehmen. Meist machen wir uns keine Gedanken, wie oft und in welchem Maße wir Medikamente nutzen. In der Natur wirken Reste aus Medikamenten wie Diclofenac aber noch lange nach. Selbst dann, wenn beim Patienten der Schmerz schon längst vergessen ist.
Große Belastung für Natur und Umwelt
Salbenreste gelangen zum Beispiel über den Abfluss der Dusche in das Abwassersystem, genauso wie Medikamentenreste, die wir über den Urin ausscheiden, über die Toilette. Von dort aus führt der Weg in die Kläranlage, wo das Abwasser gereinigt wird. Mit einigen Medikamentenresten kommen die Anlagen gut zurecht, mit anderen leider weniger, sodass Spurenstoffe auch nach der Reinigung im geklärten Wasser zurückbleiben. Die Wirkungen dieser Mikroschadstoffe auf die aquatische Umwelt, also auf Wasserlebewesen aller Art, werden in Studien als bedrohlich angesehen, die Langzeitwirkung auf den Menschen ist noch nicht erforscht. Jeder Einzelne kann dem vorbeugen, indem er Arzneimittel nicht über die Spüle oder die Toilette entsorgt, sondern alte oder nicht gebrauchte Medikamente in die Restmülltonne wirft. Noch ein Tipp: Salben am besten nur dünn auftragen und nach dem Eincremen die Hände zunächst mit einem Tuch abreiben, um die Salbenreste beim nächsten Händewaschen nicht Richtung Kläranlage zu schicken.
Ausbau der vierten Reinigungsstufe
„Konkret wird der Lippeverband in den kommenden Jahren unter anderem mehr als zehn Kläranlagen an Belastungsschwerpunkten mit zusätzlichen Reinigungsstufen ausstatten müssen“, machte Prof. Dr. Uli Paetzel, als Vorstandsvorsitzender des Lippeverbandes deutlich. Eine umfangreiche Analyse auf Grundlage verschiedener Parameter und Strömungswegen ergab, an welchen Kläranlagen eine sogenannte vierte Reinigungsstufe einen besonders hohen Wirkungsgrad für die Lippe hat. Zusätzliche Reinigungsstufen sind zunächst für die Kläranlagen Hamm-West und Soest vorgesehen.
EU-Wasserrahmenrichtlinie gibt Ziele vor
Die Gewässer möglichst sauber zu halten, gehört zu den Pflichten des Lippeverbandes, die ihm von der Europäischen Union über das Land NRW aufgetragen wurde. Mit Einführung der europäischen Wasserrahmenrichtlinie (EU-WRRL) im Jahr 2000 wurde europaweit vorgegeben, alle Flüsse, Seen, Grundwasserkörper und Küstengewässer in einen qualitativ „guten Zustand“ zu überführen – dazu zählen der ökologische und der chemische Zustand. Der Weg zum angestrebten Ziel wird durch Maßnahmenprogramme und Bewirtschaftungspläne aufgezeigt und in drei Zyklen bis 2027 umgesetzt. Der dritte Zyklus der WRRL beginnt 2022 und bedeutet zahlreiche Maßnahmen, die es umzusetzen gilt, um in erster Linie die stoffliche Belastung für die Oberflächengewässer zu reduzieren. Die zusätzlich umzusetzenden Maßnahmen der Wasserrahmenrichtlinie werden sich auf die Entwicklung der Beiträge auswirken. Dafür wird sich die Wasserqualität auch noch mal deutlich verbessern.
Europäische Wasserrahmenrichtlinie muss auch nach 2027 weiter umgesetzt werden, denn die aktuelle Situation der Gewässer ist kritisch. Während nur 10 Prozent der Oberflächengewässer in Deutschland in einem guten ökologischen Zustand sind, sieht es bei der chemischen Gewässer-Bewertung noch dramatischer aus: Derzeit wird der chemische Zustand aller Fließgewässer in Deutschland als „nicht gut“ eingestuft. Insbesondere vor diesem Hintergrund müssen die Maßnahmen der WRRL als Langzeitaufgaben auch nach 2027 weiter umgesetzt werden.
Infokasten:
Was ist die vierte Reinigungsstufe? In der Debatte um die 4. Reinigungsstufe geht es meist um das Herausfiltern von Spurenstoffen, d. h. um Mikroschadstoffe wie etwa aus Medikamentenresten, Pestiziden und Pflanzenschutzmitteln, Silber- und Korrosionsschutzmitteln, synthetischen Duftstoffen in Körperpflegeprodukten etc. Die herkömmlichen modernen Kläranlagen sind in der Lage, viele dieser Spurenstoffe effizient zu beseitigen. Der Rest verbleibt jedoch im geklärten Wasser und gelangt so in die Gewässer. Sehr hartnäckig sind vornehmlich die im Fokus einer 4. Reinigungsstufe stehenden sogenannten Indikatorparameter für Spurenstoffe, u. a. Wirkstoffe wie Diclofenac (in Schmerzmitteln enthalten), Benzotriazol (in Geschirrspülmitteln enthalten) und Röntgenkontrastmittel. Die 4. Reinigungsstufe (nach Vorklärung und biologischer Reinigung, Phosphor- und Nitratelimination) ist keine bestimmte Klärtechnik, sondern bezeichnet eine ganze Reihe verschiedener Optionen wie Ozonierung, Membranfiltration (als Nanofiltration oder Umkehrosmose) oder Aktivkohlefiltration. Mit diesen Verfahren können auch hartnäckige Spurenstoffe weitestgehend aufgeknackt oder herausgefiltert werden.
Zahlen und Fakten:
- 85 Tonnen Diclofenac werden jedes Jahr in Deutschland verbraucht.
- Ein Massensterben bei Geiern in Pakistan machte die Weltöffentlichkeit in den 1990er-Jahren auf die möglichen Folgen von Diclofenac aufmerksam. Die Vögel hatten Rückstände des Arzneimittels über das Fleisch von verendeten Rindern aufgenommen und starben durch Nierenversagen.
- Nur zu 30 Prozent kann Diclofenac auf konventionellen Großkläranlagen ohne 4. Reinigungsstufe herausgefiltert werden – das Anti-Epileptikum Carbamazepin sogar nur zu 20 Prozent.
- Rund 3.000 unterschiedliche Wirkstoffe in über 9.000 Präparaten werden bundesweit aktuell in der Human- und Veterinärmedizin verwendet.
- 269 verschiedene Arzneimittel-Wirkstoffe können aktuell in der Umwelt und vor allem in Gewässern nachgewiesen werden.
Lippeverband
Der Lippeverband ist ein öffentlich-rechtliches Wasserwirtschaftsunternehmen, das effizient Aufgaben für das Gemeinwohl mit modernen Managementmethoden nachhaltig erbringt und als Leitidee des eigenen Handelns das Genossenschaftsprinzip lebt. Seine Aufgaben sind in erster Linie die Abwasserentsorgung und -reinigung, Hochwasserschutz durch Deiche und Pumpwerke und die Gewässerunterhaltung und -entwicklung. Dazu gehört auch die ökologische Verbesserung technisch ausgebauter Nebenläufe. Darüber hinaus kümmert sich der Lippeverband in enger Abstimmung mit dem Land NRW um die Renaturierung der Lippe. Dem Lippeverband gehören zurzeit 155 Kommunen und Unternehmen als Mitglieder an, die mit ihren Beiträgen die Verbandsaufgaben finanzieren. www.eglv.de
Quelle: Pressemitteilung des Lippeverbandes