Der Wandel des Umgangs mit Kindern und mit dem Kindeswohl ist über die Jahrzehnte in Europa sensibler geworden, so auch in Deutschland. Ein „besonderes Gewaltverhältnis“ von Eltern gegenüber ihren Kindern besteht nicht mehr, insofern ihnen als Subjekte – auch als Kinder – Grundrechte zustehen, darunter das der körperliche Unversehrtheit (GG Art. 2 Abs. 2). Grundrechte sind abzuwägen gegen andere Grundrechte, so das der freien Religionsausübung und des elterlichen Sorgerechts.
Das Kölner Landgericht kam zu der Auffassung, dass eine Beschneidung nicht dem Kindeswohl diene und daher unzulässig sei. Darüber ist in Deutschland eine Diskussion entbrannt, die die damit verbundene Beschränkung der Religionsfreiheit fokussiert. Das Kölner Landgericht hat jedoch eine positive Auslegung vorgenommen, was dem Kindeswohl dient. Es hätte sich auf eine Auslegung beschränken müssen, was dem Kindewohl nicht dient.
Der angeklagte Arzt wurde freigesprochen, da er sich – angesichts der komplexen Rechtslage und widersprechender Rechtsauffassungen – in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum befand. Dennoch ist Teil dieses Urteils zu einem Einzelfall die folgende grundsätzliche Feststellung laut Pressemitteilung des Landgerichts enthält:
Dieser Eingriff [die Beschneidung] sei insbesondere nicht durch die Einwilligung der Eltern gerechtfertigt, weil sie nicht dem Wohl des Kindes entspreche.
Was dem Wohl des Kindes dient, entscheiden die Eltern
Was dem Wohl des Kindes dient, entscheiden zunächst einmal die Eltern. Das muss der Grundsatz bleiben. Einer gerichtlichen Prüfung darf nur zugänglich sein, was ihm schadet. Schadet eine Beschneidung dem Kindeswohl? Schadet eine Beschneidung der körperlichen Unversehrtheit? Wie ist dieser vermeintliche Schaden abzuwägen im Umfang, zu weiteren Kriterien und bezogen auf das Alter des Betroffenen? Da wird die Abwägung schon schwieriger. Ein paar Anmerkungen dazu:
- Dient die Ausübung verletzungsgefährlicher Sportarten dem Kindeswohl? Ist eine Körperertüchtigung nicht auch mit weniger verletzungsgefährlichen Sportarten denkbar als beispielsweise mit Skifahren oder Basketball?
- Das Stechen oder Schießen von Ohrlöchern ist nicht reglementiert. Ist es ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit?
- Piercing und Tätowieren bedarf bei Minderjährigen der schriftlichen Einwilligung der Erziehungsberechtigen, bei Unter 16-jährigen ist es verboten. Die Regelung findet sich in den „Ausübungsregeln für das Piercen und Tätowieren durch Kosmetik (Schönheitspflege)- Gewerbetreibende“, einer Verordnung. Dabei wird davon ausgegangen, dass es sich um gewerbliche und ästhetische Zwecke handelt.
- Im Gegensatz dazu handelt es ich bei der Beschneidung um unstrittige gesundheitliche bedingte oder religiös motivierte Eingriffe. Dabei kann beides zusammenkommen, denn die Beschneidung wird auch teilweise als gesundheitsfördernd angesehen. Das relativiert Ansichten, sie diene nicht dem Kindeswohl. Berechtig ist die Annahme, sie schade ihr nicht.
- Die religiös motivierte Beschneidung dient nicht ästhetischen oder gewerblichen Zwecken. Allein die Vorstellung ästhetisch oder gewerblich motivierten Beschneidung wirft die Fragen des ‚wozu‘ auf, und ob dieser Zweck dann nicht Kindeswohl gefährdend sei.
- Insbesondere erfüllt die religiöse Beschneidung nicht die Merkmale, dass sie das Kind herabwürdigen oder seelisch verletzen sollen.
Die Beschneidung ist eine leichte Körperverletzung, in die die Eltern für das Kind eingewilligt haben – aus gesundheitlichen und/oder religiösen Motiven. Das Strafgesetzbuch stellt bei der Einwilligung in § 228 auf die Sittenwidrigkeit ab:
§228 Einwilligung
Wer eine Körperverletzung mit Einwilligung der verletzten Person vornimmt, handelt nur dann rechtswidrig, wenn die Tat trotz der Einwilligung gegen die guten Sitten verstößt.
Ist eines Beschneidung sittenwidrig?
Die Beschneidung von Kindern verstößt nicht gegen das Anstandsgebot aller billig und gerecht denkenden Menschen, sie ist nicht sittenwidrig. Sie ist es nicht aus religiösen Motiven. Sie ist es allenfalls geworden, da ein deutsches Gericht sie als Straftat ansah. Aber das führt hier in einen Zirkelschluss.
Auch entstehend das Rechtsgebäude aus Normen nicht im leeren Raum, sondern muss geschichtliche und kulturelle Entwicklungen und Bedingungen berücksichtigen. Eine derartige Berücksichtigung spricht gegen die Sittenwidrigkeit.
Das Recht muss auch zur Lebenswirklichkeit passen
Wird die Beschneidung nicht als sittenwidrig angesehen, weil sie nicht gegen das Anstandsgefühl der Bürger verstößt, ja weitgehend akzeptiert ist, dann ergibt sich ein Widerspruch. Eine akzeptierte Praxis, die rechtlich unzulässig ist. Im Ergebnis wird dies zum Ignorieren der Regelung führen oder zu einem Ausweichen, wie Vornahme von Beschneidungen im Ausland. Das erlaubt nur bedingt ein Ausweichen aus der elterlichen Haftung.
Das Recht muss auch zur Lebenswirklichkeit passen.
Es wäre gut, wenn nicht nur die richterliche Entscheidung, die Abwägung, überprüft würde, sondern auch eine gesetzliche Klarstellung erfolgt. Das wäre wichtig als Bekenntnis zur Definition eines zunächst durch die Eltern definierten Kindeswohls. Dies wurde mit dieser Entscheidung beschnitten.
Es gibt einen Unterschied zwischen der Beschneidung eines Säugling mit 8 Tagen und Jungen. Eltern werden es in Abhängigkeit seines Alters zu berücksichtigen haben, wenn Jungen eine Beschneidung nicht wollen.
Als besonders lesenswert empfehle ich den Beitrag „Beschnitten“ von Jura-Professor Dr. Christian Walter in der FAZ (11.07.2012).